Abgestellt statt eingestellt
Laut Sozialgesetzbuch IX (§219) und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) haben die Behindertenwerkstätten (WfbM) die Teilhabe und Eingliederung von Menschen mit Behinderung zu leisten. Sie sollen Menschen mit geistigen und/oder körperlichen Einschränkungen die Fähigkeiten vermitteln, um am regulären Arbeitsmarkt teilzunehmen und selbstständig für ihren Lebensunterhalt aufkommen zu können.
Wer einen Blick auf die Statistik wirft, wird jedoch schnell feststellen, dass zwischen Ziel und Wirklichkeit aktuell ein weiter Weg liegt.
2022 arbeiteten rund 270.000 Beschäftigte in den Arbeitsbereichen der über 700 WfbM. Ein Großteil davon in NRW. Die Quote der Weitervermittlung in den ersten Arbeitsmarkt lag im selben Zeitraum bei etwa einem Prozent.
Deutschland liegt im internationalen Vergleich in Sachen Inklusion weit zurück.
Wir fordern daher endlich die Umsetzung der UN-BRK! Menschen mit Behinderung muss es ermöglicht werden, ihren Arbeitsplatz frei zu wählen und selbstständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen.
Widerspruch im System beenden!
Die Ursache für die geringe Weitervermittlung von Werkstattbeschäftigten auf den ersten Arbeitsmarkt liegt im System der WfbM selbst. Deren gesetzlicher Inklusions- und Rehabilitationsauftrag (§ 219 SGB IX) ist mit der gleichzeitigen Vorgabe zur Wirtschaftlichkeit (§ 12 WVO) in großen Teilen nicht vereinbar. Die Vermittlung ihrer leistungsstärksten Beschäftigten auf den regulären Arbeitsmarkt beeinträchtigt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Werkstätten enorm. Was das Resultat dieses Zielkonflikts ist, zeigt sich auch an der Weitervermittlungsquote von lediglich 1%.
In Deutschland müssen Unternehmen, die nicht die gesetzlich vorgeschriebene Zahl an Menschen mit Behinderung beschäftigen, eine sogenannte Ausgleichsabgabe an das zuständige Integrationsamt entrichten. Statt einen Anreiz für mehr Inklusion darzustellen, bietet die Ausgleichsabgabe den Unternehmen die Möglichkeit, sich „freizukaufen”. Gleichzeitig werden die WfbM und andere Vorhaben zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben partiell durch die Ausgleichsabgabe finanziert. Demzufolge beruht die finanzielle Planung darauf, dass Unternehmen zu wenig Menschen mit Behinderung beschäftigen und die Ausgleichsabgabe zahlen müssen.
Dieses Konzept widerspricht dem gesetzlichen Auftrag der WfbM!
Unternehmen profitieren bei der Produktion in WfbM von geringeren Auftragskosten und einem ermäßigten Umsatzsteuersatz. Außerdem haben sie die Möglichkeit, 50% des Rechnungsbetrags auf die Höhe der Ausgleichszahlung, falls diese anfällt, anzurechnen. Damit wird kein Anreiz für mehr Inklusion im eigenen Unternehmen geschaffen. Vielmehr bedeutet es, dass die Auslagerung der Produktion oder Dienstleistungen in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen äußerst profitabel ist und die Unternehmen von der Verantwortung entbindet, selbst zur Inklusion auf dem regulären Arbeitsmarkt beizutragen.
Mit der Behinderung der Menschen wird Geld verdient. Dieser Zustand ist inakzeptabel!
Deshalb fordern wir, dass
- Reformen auf den Weg gebracht werden, die das System der WfbM umgestalten, sodass sie ihrem Inklusionsmandat nachkommen können. Denn: Die Werkstätten müssen endlich ihrem eigentlichen Auftrag, Werkstattbeschäftigte langfristig in Arbeit auf dem regulären Arbeitsmarkt zu bringen, gerecht werden.
- der reguläre Arbeitsmarkt strukturell so verändert wird, dass er offen, inklusiv und anschlussfähig ist. Insbesondere müssen Arbeitsplätze barrierefrei geplant bzw. umgebaut und die entsprechenden Mittel zur Umsetzung bereitgestellt werden. Denn: Menschen mit Behinderung müssen überall in der Gesellschaft einen selbstverständlichen Platz haben – auch auf dem ersten Arbeitsmarkt.
- das widersprüchliche Konzept der sogenannten Ausgleichsabgabe abgeschafft wird.
Dumpinglohn made in Germany
2022 machten die Behindertenwerkstätten einen Umsatz von ca. 8 Milliarden Euro. Anstatt des Mindestlohns erhalten die Beschäftigten ein Werkstattentgelt von durchschnittlich 1,46 € die Stunde.
Die Zeit, in der primär Holzspielzeuge hergestellt wurden, ist vorbei. Heute bieten die WfbM eine Vielzahl an Dienstleistungen und Anfertigungen an, teils für große Unternehmen. Die Werkstätten werben mit ihrer hohen Qualität und den günstigen Herstellungskosten sowie den steuerlichen Vorteilen, die es für die Fertigung in Behindertenwerkstätten gibt.
So kommt es dann auch zustande, dass ein bekannter Fabrikant von Kinderrädern seine Produkte nur mit dem Siegel „Made in Germany“ schmücken kann, weil die Montage durch über 400 Beschäftigte in den Werkstätten vorgenommen wird.
Es kann nicht sein, dass Unternehmen sich an solch einem Dumpinglohn-System bereichern, zumal die Einsparungen durch öffentliche Kostenträger übernommen werden. Wer nur durch Lohndumping und die Vergesellschaftung von Kosten wettbewerbsfähig bleiben kann, sollte eventuell das eigene Geschäftsmodell überdenken.
Es ist außerdem inakzeptabel, dass Menschen, die am 1. Arbeitsmarkt durch inklusive Programme teilnehmen, unterbezahlt sind und zusätzlich entmutigt werden, weil ihre Zuverdienste und das Weihnachtsgeld mit ihrer Grundsicherung verrechnet werden. Dadurch wird das Engagement langfristig auf dem 1. Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, nicht wertgeschätzt.
Deshalb fordern wir
- die Erhöhung des Werkstatt-Entgeltes auf Mindestlohn-Niveau. In einzelnen Fällen muss dies durch Subventionen der öffentlichen Hand gewährleistet werden.
- die Erhöhung des Freibetrages auf die Grundsicherung.
Streik ist ein Grundrecht!
Wer mit Behinderung in einer Behindertenwerkstätten arbeitet, verfügt über kein klassisches Arbeitsverhältnis, sondern steht in einem „arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis“ – da ja die Betreuung und Weiterbildung im Vordergrund steht.
Beschäftigte in WfbM können keine Gewerkschaften gründen oder ihnen beitreten. Anstelle von Betriebsräten gibt es Werkstatträte mit beschränkten Kompetenzen. Außerdem besitzen die Beschäftigten kein Streikrecht, sodass es ihnen nicht möglich ist, aus Protest gegen vorherrschende Bedingungen, die Arbeit niederzulegen.
Deshalb fordern wir
- Arbeitnehmer*innenrechte für Beschäftigte der WfbM.
- die rechtliche Sicherstellung des Streikrechts für Arbeiter*innen in WfbM nach Art. 9 Abs. (3) GG.
Politik und Wirtschaft müssen endlich konsequente Inklusion auf dem regulären Arbeitsmarkt herbeiführen. Dafür muss insbesondere das System der Werkstätten für behinderte Menschen kurz- beziehungsweise mittelfristig reformiert und langfristig vollständig überdacht bzw. abgeschafft werden, wie es auch der UN- Fachausschuss 2015 gefordert hat.
Für eine effektive Inklusion von Menschen mit Behinderung in den 1. Arbeitsmarkt bedarf es außerdem einer Überarbeitung des aktuell immer noch exkludierenden Schulsystems. Nur so kann Chancengerechtigkeit beim Einstieg in den Arbeitsmarkt gewährleistet werden. Als Vorbild könnte das schwedische Modell der “Schule für alle” herangezogen werden.
Die dafür benötigten finanziellen und personellen Mittel müssen endlich zur Verfügung gestellt werden
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